Geständnis

von Melanie Frey

Industriemuseum Elmshorn
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Name * Binah Nadelreich
E-Mail * binah-nade.@lycos.nl
Betreff * Brief meiner jüdischen Großmutter Dorit Nadelreich – Lederfabrik Knecht Nachricht *


Liebe Museumsbetreiber,
meine geliebte Omi ist letzte Woche in Groningen (Niederlande) verstorben. In ihrem Nachlass fand ich diverse, von ihr handgeschriebene Briefe. Dieser Auszug aus einem davon könnte Sie
möglicherweise als Zeitdokument interessieren. Hiermit sende ich ihn Ihnen in abgetippter Form.


Sollten Sie Interesse haben, schicke ich Ihnen das gesamte Original gerne zu.


Schalom, Binah

 


Erinnerungen an Heimat - ein Geständnis. Groningen, März 2015
1939 brannte ein Teil der Knechtschen Hallen (Elmshorn, Deutschland), das Gebäude der Spritzerei. Als Ursache für das Feuer wurde ein unachtsames Lagern von Chemikalien benannt. Ich weiß aber, dass ich schuld war, und das kam so:


Als Adolf Hitler am 1. April 1933 den Boykott der jüdischen Einrichtungen erklärte, mussten meine Eltern ihre Näherei in Elmshorn schließen. Erst konnten sie uns mit ihrem Ersparten über Wasser
halten, dann mussten sie sich Unterstützung durch Freunde und die jüdische Gemeinde holen.


Mein Vater brachte meine Mutter, mich und meinen Bruder im Sommer 1938 bei einer befreundeten jüdischen Familie unter, da er die Miete für unser Haus am Sandberg nicht mehr zahlen konnte. Er verließ uns, um im Ausland eine neue Existenz aufzubauen, dann wollte er uns
nachholen.


Im Januar 1939 verließen wir diese Familie, die ihre winzige Wohnung mit uns geteilt hatte. Mein Bruder war neun, ich dreizehn Jahre alt. Ich sah, dass sie erleichtert waren, als wir gingen. Den Blick von Emmi, der Mutter, habe ich nie vergessen. Später hörte ich, dass sie in das KZ
Jungfernhof in Riga deportiert und dort höchstwahrscheinlich erschossen wurden. Wie habe ich geweint.


Unsere neue Unterkunft war ein Nebenraum in der Spritzerei der Lederfabrik Knecht. In dem Vorarbeiter der Spritzerei, Hermann, hatte meine Mutter einen Gönner gefunden. Ich weiß nicht wie sie das gemacht hatte, aber sie war so tapfer und ich liebte sie über alles. Tagsüber schuftete sie in der Fabrik, dafür durften wir hier versteckt leben unter Hermanns Schutz, und er versorgte uns mit Nahrung.
Dieses etwas unbeschwertere Leben war angenehmer, doch Mutter war immer angespannt, sie vermisste Vater natürlich genauso wie wir Kinder und arbeitete hart. Nahezu jeden Abend kam Hermann zu ihr. Wir Kinder mussten dann den Raum verlassen. Ich grübelte, was der Vorarbeiter und meine Mutter da machten, hatte Ahnungen.

 

Oft beobachtete ich, dass sie Tränen unterdrückte, wenn er gegangen war, doch ihr Blick verbot mir, sie Näheres zu fragen. Ich fand den Hermann furchteinflößend. Er hatte eiskalte blaue Augen, gegelte Haare und eine hagere Statur. Trotzdem war ich ihm dankbar für seine Hilfe.

Eines Abends im Sommer 1939 hatten mein Bruder und ich lange an der Krückau gespielt und kamen in die dunkle Fabrik zurück. Völlig arglos öffnete ich die Tür zu unserem kleinen Raum und sah im Kerzenschein meine Mutter mit Hermann in enger Umarmung.
Vor Schreck konnte ich mich erst nicht rühren, doch dann schubste ich meinen Bruder in den Raum zur Mutter und rannte panisch schreiend, die Petroleumlampe in der Hand, durch die Spritzerei Richtung Ausgang. Voller Ekel wollte ich nur weg von diesem Ort.
Der Vorarbeiter lief wütend hinter mir her. Ich nehme an, aus Angst, dass wir entdeckt werden könnten aufgrund meines Schreiens. Er riskierte schließlich seine Anstellung.

 

Als er mich fast erreicht hatte, stolperte ich und schlug lang hin. Die Petroleumlampe fiel mir aus der Hand und kullerte über den Holzboden, während sich der Vorarbeiter auf meinen Rücken warf.
Ich hörte meine Mutter meinen Namen rufen, als es einen großen Knall gab und mir augenblicklich eine gewaltige Hitze entgegenschlug. Das Feuer der Lampe hatte Chemikalien, die hier lagerten, entzündet.


Ich versuchte mich von dem Vorarbeiter zu befreien und realisierte, dass er sich nicht bewegte. Meine Mutter half mir, und mit meinem Bruder an ihrer Hand rannten wir aus der Fabrik. Fassungslos standen wir am Ende der Schloßstraße und sahen mit an, wie mehrere Stockwerke der Spritzerei abbrannten.


Nur wir drei wussten, unter welchen Umständen der Hermann in der Spritzerei gestorben war. Bevor das Feuer gelöscht war, waren wir schon auf der Flucht.


In einem Viehwaggon Richtung Holland nahm meine Mutter meine Hand, ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie flüsterte: „Ich habe ihn gehasst, doch ich konnte mich nicht befreien. Ich danke
dir, mein Liebling.“


Augenblicklich verstand ich alles und bedauerte rein gar nichts.
Meine Mutter weinte hemmungslos in meiner Umarmung und es war, als ob alles Leid, welches sie für uns ertragen hatte, aus ihr herausgeschwemmt wurde.


Wie sehr liebte ich sie...

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